Soldaten an der Front

Seit zwei Wochen herrscht Ausnahmezustand an meinem Arbeitsort. Die Lage ist angespannt. Überall wird aufgerüstet. So als wäre Krieg. Verwirrt oder verstört beobachte ich die Situation ennet der Grenze. Dort wo Touristen in den Sommermonaten an den Stränden flanieren und Gelati in sich reinschaufeln, ist von «dolce far niente» momentan keine Rede. Zumindest nicht für das Personal, das einer Gesundheitseinrichtung angehört. Was zum Teufel passiert hier gerade, frage ich mich? Unser Alltag – und wenn ich von uns oder wir spreche, ist vom im Gesundheitswesen angestellten Personal die Rede – steht derzeit Kopf. Neue Abläufe werden eingeübt, Arbeiten verlagert. Umorientiert. Alles gleich und doch alles irgendwie neu. Im Zweistundentakt neue Anweisungen, neue Regeln, geänderte Standards. Es gilt die Sache anzupacken. Unausweichlich. Das wird jetzt von uns erwartet. Ebenso stellen wir diese Erwartung an uns selbst. So sind wir. Welcher Arbeitsaufwand uns in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten erwarten wird, ist uns auch bewusst. Hinsichtlich dieser Tatsache ist mir der pragmatische Humor, den sich Pflegepersonen im Laufe ihres Berufslebens zu eigen machen, um einigermassen im Arbeitsalltag zu überleben, irgendwo zwischen Dauerhändewaschen und stillem Abwarten auf das Eintrudeln von Schutzbekleidung abhandengekommen. Das Lachen, welches ich üblicherweise auch gerne mit Patienten und Kolleginnen teile, ist mir vergangen. Vielen meiner Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen wird es wohl ähnlich ergehen.

Jetzt stehen wir also wie Soldaten an der Front. Es wird applaudiert. Seit Neustem scheint mein Beruf «systemrelevant» zu sein. Eine Tatsache, die mir bis anhin nicht bewusst war. Ein bisschen heuchlerisch finde ich das schon. Gut gemeint, ist nicht zwingend gut gemacht. An die Leute ausserhalb der Sperrzone Spital: die Pflegeversorgung durch Pflegepersonal läuft seit Jahren am Limit. Der Pflegenotstand ist kein Gerücht, sondern bittere Realität. Selbst dem letzten Einwohner im mittleren Schattengibeleggtäli muss diese Tatsache nicht gänzlich unbekannt vorkommen. Wer in die diversen Einrichtungen Einblick erhält, sieht, was Sache ist. Wer anderes behauptet, ist entweder blind oder lügt. Zur Erinnerung: Stellenpläne werden eng geschnürt, Personal und verteilte Aufgaben werden zu Gunsten von Kosteneinsparung (weg)rationalisiert. Der Ersatz aus dem Ausland deckt bei Weitem die fehlenden Hände nicht ab. Zu wenige wollen den Beruf noch erlernen, da bis anhin politisch immer noch keine Vorstösse unternommen wurden, um die Attraktivität des Berufes zu steigern. Zu viele wenden sich vom Beruf ab. Weil sie nicht mehr aushalten können oder aushalten wollen. Wenn wir es wagen uns zu äussern, nennt man uns asozial und unsolidarisch, sagen wir nichts, sind wir selbst schuld an der «Misere Pflegenotstand». Sind wir mutig genug, zu demonstrieren, für unser Recht einzustehen, gar dafür zu kämpfen, geht ein Raunen, wenn nicht gar ein Aufschrei durch die Bevölkerung, dass sich das für so Leute, wie wir es sind (was sind wir denn für Leute?) einfach nicht gehöre.

Also, frage ich frech, wer von euch wird uns noch Beifall zusichern, wenn diese Krise überstanden ist? Dürfen wir auf eure grosszügige Unterstützung zählen, wenn wir alsbald darum bitten werden? Aus der Erfahrung der letzten Jahre wage ich jedoch zu sagen: rasch wird in Vergessenheit geraten, was in dieser Ausnahmesituation geleistet wurde. Die Normalität in eurer Welt da draussen, die sich gänzlich von der Normalität im Gesundheitswesen unterscheidet, wird ihren Beitrag dazu leisten.
Ich höre jetzt schon die ersten Stimmen, die sich erheben, weil sie zu wenig schnell einen Vorschlag für den ausgesetzten Arzttermin erhalten; ich höre jetzt schon die ersten Stimmen, die sich erheben, wenn sie eine halbe Stunde oder vielleicht auch mal länger (Leute, es geht nicht immer um Leben oder Tod!) auf dem Notfall warten müssen; ich höre jetzt schon die ersten Stimmen, die sich erheben, was für ein unkompetenter Haufen wir doch sind und eigentlich gar nichts können. Ich höre jetzt schon die ersten Stimmen, die ernsthaft mit dem Anwalt drohen, wenn sie sich unverstanden und ungerecht behandelt fühlen.

Während euer Leben da draussen in die Normalität übergehen wird, während an der italienischen Riviera die Touristen wieder Gelati in sich reinschaufeln werden, liebe Leute, werden wir an der Front die zerschlagenen Scherben, die diese Krise zweifelsohne hinterlassen wird, zusammenfegen. Vielleicht lässt sich etwas kitten. Ganz sicher nicht alles. An Fronten werden Opfer gebracht. Vielleicht werden wir uns gegenseitig auf die Schultern klopfen und uns darüber freuen, dass wir eine Brücke über etwas scheinbar Unüberbrückbares schlagen konnten. Vielleicht wird die eine oder der andere sagen «das war’s endgültig» und den Kittel an den Nagel hängen wollen und vielleicht wird der- oder diejenige durch eine helfende Hand aus den eigenen Reihen davon abgehalten. Man fühlt sich dann nicht so allein, wenn nach der Krise die Leere kommt. Diese Gefühle sind uns Pflegenden nicht neu. Gut möglich, dass wir auch die einzigen sind, die uns gegenseitig wirklich verstehen und nachvollziehen können, was es bedeutet, Entscheidungen treffen zu müssen, die lebensverändernd sein können.

Ihr haltet euch für solidarisch, wenn ihr jetzt Nachbarschaftshilfe leistet? Das ist gut so. Doch ich sage euch, Solidarität ist mehr als nur ein Wort. Es muss zur Selbstverständlichkeit werden, in euer Blut übergehen. Füreinander einstehen, einander helfen. Ihr könnt die Frontsoldaten des täglichen Lebens werden. Und vielleicht erkennt ihr in eurem Tun, was Pflegende jeden Tag für andere machen. Wie gross ihr Anliegen ist, die Pflegeversorgung zukünftig in einem qualitativ anstrebenswerten Umfang leisten zu können. Es geht uns alle an.
Denkt an meine Worte. Denn es wird der Tag kommen, da werden die Frontsoldaten von heute an eure Solidarität appellieren. Da wird Applaus nicht mehr genügen. Es wird der Tag kommen, an dem ihr die Stimme für die Frontsoldaten von heute sein werdet. Und an diesem Tag zählen wir auf euch.

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