Aus aktuellem Anlass

In Gedanken bei den Menschen in der Ukraine. In Gedanken bei all jenen, die ungewollt in unnötige Kriege mit hineingezogen werden. In Gedanken, bei den Müttern, die ihre Söhne ziehen lassen müssen und sie nie mehr sehen werden. In Gedanken bei allen, deren Leben in Bahnen gelenkt werden, die man keinem wünscht.
Einst sagte mir mal jemand: „jeder ist seines Lebensweges eigener Chauffeur“. Das mag wohl stimmen. Dennoch sollten wir uns erinnern: nicht jeder hat das Privileg, sich die Wege, auf denen er unterwegs ist, selbst auszusuchen.

Abseits des Wegs 

Sie sitzt am Straßenrand. Staub wirbelt auf. In ihren Armen ein Bündel zerknautschter Wäsche. Zwischen den Lumpen ein Stück Fleisch. Es atmet nicht mehr, leblos das Ärmchen.

Sie wippt vor und zurück, zurück und vor. Im immer wiederkehrenden Rhythmus. Sie will nicht hasten, ein bisschen verweilen. Staub wirbelt auf und trocknet ihre Tränen, rascher als es ihr lieb ist.
Ein Konvoi zieht vorbei, dann ein zweiter. Panzer stampfen Rautenmuster in den Kies. Auf den Ladeflächen Gewehre und Patronen, rein und unverbraucht. Noch haben sie keine Leiber durchbohrt und keine Knochen zersplittert. Noch haben sie kein Leben zerstört. Noch könnte man sich von dem Unheil abwenden, das hinter dieser neu gezogenen Grenze tobt und wie ein Orkan über ihre Heimat hinweg fegt. Doch keiner tut’s. Die einen rennen davon, die anderen direkt hinein. Als wäre es vorbestimmt.
Sie streichelt das schmale Bündel. Ihr Kind. Wie gerne wäre sie mit ihm die ersten Schritte gegangen, hätte sein Händchen zuerst noch in der ihren gehalten, warm und sicher um es eines Tages, wenn die Zeit reif dazu gewesen wäre, loszulassen. Wie gerne hätte sie ihr Mädchen zum Lächeln gebracht. Nie wäre sie von diesem Anblick satt geworden. Voller Freude hätte sie ihrem Kind die kleinen Wunder dieser Welt gezeigt. Ihrer Welt, so wie sie sie kannte, gut und schön, voller Liebe und Musik. Doch die Musik um sie herum war seit einer gefühlten Ewigkeit verstummt. Mächtige Worte aus dem Äther hatten eine neue Zeit angekündigt. Das Geratter von Maschinengewehren ist an die Stelle der lieblichen Melodien getreten, nimmt deren Platz ein. Füllt die Tage aus. Ebenso die Nächte.
«Liebes, wir können sie nicht mitnehmen», sagt er und zieht ihr die Kleine sanft aus den Armen, die sich daran klammern, als gäbe es sonst keinen Halt. Er küsst das Kind auf die kalte Stirn, bettet es in den Straßengraben auf Laub vom Vorjahr und deckt es mit Birkenästen zu. Sie kann sich nicht rühren, beobachtet ihn, wie er sich verabschiedet. Und bewundert seine Stärke.
Nie hätte sie gedacht, dass ihre Milch versiegen könnte, dass sie als Mutter versagen würde. Sie hätte gerne getauscht, in diesem Moment sich mit dem Birkenlaub bedeckt, dem Himmel noch einmal gute Nacht gesagt und sich für immer schlafen gelegt. Gerne hätte sie ihrem Kind eine angenehmere Reise ermöglicht. Wie unglaublich unnatürlich ihr das alles vorkam. Selber am Leben zu sein und das Kind alleine zurückzulassen. Das Atmen fällt ihr schwer. Sie legt die Hände über die Augen, will nichts mehr sehen, muss dieses Bild vergessen. Doch es reißt ihr ein Loch in die Brust. Brennt, als hätte eine Kugel sie durchschlagen.
«Sie wird frieren. Unser Mädchen wird in diesen klaren Nächten frieren», sagt sie und erwacht aus ihrer inneren Starre. Sie nimmt ein Birkenästchen und legt es zu den anderen über den kleinen ausgehungerten Körper.

Er schweigt. Sie schweigt.

«Lass uns gehen. Das Monster kommt schon näher.» Er zieht sie zu sich und schenkt ihr eine kurze Umarmung. Er streicht ihr die Haare aus dem Gesicht und wischt liebevoll mit dem Zipfel seines Ärmels den eingetrockneten Staub von ihren Wangen. Wie gerne würde er tauschen, sein Leben für das des Kindes hingeben, das ihnen genommen wurde, weil hinter den Grenzen das Grauen wütet und sie ungefragt diesen beschwerlichen Weg auf sich nehmen mussten. Lieber hätte er seine Frau lächeln sehen, wie damals am Tage ihrer Hochzeit und bei der Geburt der Kleinen. Er würde tauschen, wenn er könnte. Doch er kann nicht. Und er hört sein Herz in zwei Stücke brechen.
Niemand sieht den Abschied auf der Landstraße. Keiner hört das leise Schluchzen zweier Menschen. Der Wind sucht sich seinen Weg durch die Äste und der Wald summt ein ganz eigenes Lied. Der Tag löst sich auf und die Nacht übernimmt die Schicht. Raketenfeuer erhellen den Himmel, setzen Zeichen in die Luft. Sie beide laufen, drehen sich nicht um. Hasten, hetzen, rennen so lange ihre Füße sie noch tragen mögen. Den Konvois entgegen, die ins Verderben fahren. Sie laufen weg von der Katastrophe, die immer näher aufrückt. Hand in Hand. Nur noch in Lumpen gekleidet. Ein Bündel weniger im Gepäck.
Das Böse ist da und macht vor niemandem halt, denkt er und betrachtet seine Frau von der Seite. Nicht vor ihrem Häuschen, das etwas abseits des Dorfes nahe dem Waldrand steht und frisch gekalkt ist. Auch nicht vor dem Garten, der getränkt mit ihrem Schweiß, die Früchte ihrer harten Arbeit trägt. Zerstört alles Vertraute, als wär’s nie gewesen. Lenkt Geschichten in fremde Bahnen, löscht sie unwiderruflich aus. So dachten sie beide noch vor einer Weile, sie könnten standhalten, sich auflehnen, ihre Liebe und ihre Trauer seien stark genug um gegen das Elend anzukommen. Doch es walzt über alles hinweg. Überrollt die Lebenden und die Toten.
Armeefahrzeuge ziehen vorbei. So viele, dass man sie nicht mehr zählen mag. Sie sieht auf den Ladeflächen zukünftige Mörder, junge Männer, kaum Flaum ums Kinn, meist noch Kinder. Ihre Gesichtszüge eingefroren zu Masken von Kämpfern. Wie man es von ihnen erwartet. Sie denken nicht nach, befolgen Befehle. Dürften sie sprechen, würden sie ihr zujubeln und rufen: Keine Sorge Mütterchen, du wirst sehen, wir werden es richten. Doch sie schweigen. Und so ziehen sie dahin, ins Verderben, dorthin wo es erbarmungslos zu und her geht. Jeder auf sich alleine gestellt. Und sie weiss: Ihre Mütter werden sie beweinen, all jene die auf dem Feld und in den Schützengräben ihr Leben lassen müssen. Sie werden um ihre Kinder weinen, wie sie gerade ihres beklagt. Davon wissen sie noch nichts. Weder die jungen Männer noch deren Mütter. Noch sind sie stolz. Sie sind Soldaten und halten die Gewehre im Anschlag. Sind bereit zu töten, vielleicht auch bereit für ihr Vaterland zu sterben. Durch Patronen so jungfräulich, wie sie selbst.

Staub wirbelt auf. Die Landstraße revoltiert noch. Er ist da. Krieg.

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